Unbequeme Worte: ,Heil‘ sprechen – 1
Dieser Text ist eine Einladung, mit uns – und vielleicht auch mit sich selbst – ins Ringen zu gehen:
um ein Wort, das heilsam sein kann und zugleich entstellt ist.
Lange habe ich dieses Thema vor mir hergeschoben. Er schlummerte schon zu Beginn meiner Erfahrungen mit der nordischen Mythologie, der Edda, den Ritualen im Kontext der Asen, Wanen und Riesen. Denn ich empfinde an vielen Stellen ein Unbehagen gegenüber dem sprachlichen Ausdruck in unseren Asatru-inspirierten Jahreskreisfesten. Die Schatten sprechen!
Mit jedem gefeierten Jahreskreisfest wächst unser Verständnis – und die Gestaltung wandelt sich mit dem wachsenden Bewusstsein. So haben wir mittlerweile für den Schutzkreis die aus der Edda entlehnten ,12 Götterburgen‘ gegen die leichter verständlichen ,4 Himmelsrichtungen/Elemente‘ getauscht – unter anderem, weil ich mit Zeilen wie ,Sohn, der seinen Vater rächt‘ nix anfangen konnte. Auch haben wir im Eingangs-Händekreis die Formulierungen von ,Tags Söhne und Töchter der Nacht‘ durch ,Kinder‘ ersetzt, um unsere auf Gender-Rollen geprägten Mindsets zu umschiffen und den Raum zu öffnen für das Verständnis, dass beide Qualitäten in uns wirken können.
Und dann kommen zu unseren Ritualen auch immer wieder Menschen mit jüdischer Herkunft, stark linkspolitischem Bewusstsein, Wurzeln in anderen Ländern – die ebenfalls innerlich an dem Wort „Heil“ anecken, gerade wenn es im Sinne einer Anrufung ausgesprochen wird. Und dann sind da auch Menschen aus spirituellen Kreisen, für die das kein Thema ist – und wo wir uns manchmal eine klareres, politisches Bewusstsein wünschen.
Wir möchten hierbei gerne Konsens für unsere Jahreskreisfeste finden und stimmen uns inzwischen im Orga-Kreis vorher ab, ob es stimmig ist, Wörter aus der Überlieferung nutzen, die kontrovers sind oder vielleicht retraumatisierend sein können. Und wir erklären, dass wir versuchen, diese Wörter zu verwenden im Sinne einer Wiederaneignung – im Sinne, wie wir „Heil“ immer noch verwenden in Wörtern wie Heilung, Heilpraktik und Heilkräuter. Und wenn es keine Klarheit dazu gibt (oder wir es spüren im Laufe der Zeremonie), dann verwenden wir gerne Ersatzwörter. Und selbst dann ist das Unbehagen nicht immer aufzulösen. Oder wie ein Mensch das letzte Mal meinte: ich lasse mich gerne triggern!
Und ich spüre: so zwischen Tür und Angel werden wir dem Themenkomplex nicht gerecht – zu kurz gegriffen, zu klein gedacht und gefühlt, dieses große Thema reingequetscht in ein rituelles Feld, in dem wir uns achtsam bewegen und eigentlich weiten wollen.
So ist diese Blogartikel-Reihe in herzfestem Gedenken an all jene, die mit uns feiern, gefeiert haben und die die Diskrepanz wahrnehmen und die Auseinandersetzung damit begrüßen. Dank an alle, die sich mit uns in den rituellen Raum begeben – ihr seid ein Geschenk und gleichzeitig fordert ihr uns heraus, in unsere Verantwortung zu gehen. Ich hoffe, ihr lest mit Wohlwollen meinen Versuch, etwas Sinnstiftendes dazu zu schreiben und Raum zu schaffen für einen Diskurs.
Da alles viel mehr wurde als gedacht, ist es gleich eine Reihe geworden:
Teil 1 beleuchtet die historische und politische Spannung,
Teil 2 fragt nach sprachlichen Alternativen und dem Potenzial von Wortmagie, und
Teil 3 erkundet, wie sich Verantwortung und Rückaneignung im Ritual praktisch umsetzen lassen.
Heil?! – Ursprung, Missbrauch und Tabu
Von der Ethymologie über Verlagerung des Bedeutungshofs bis zu Missbrauch und Verbannung des ursprünglichen Segensrufs in die Schatten. Was machen wir damit?
Ethymologische Wurzeln
Das Wort ,heil‘ ist seit dem 8. Jahrhundert dokumentiert im Sinne von ‚heil, gesund, ganz, vollkommen, unversehrt, errettet, erlöst‘ und war auch als Grußformel üblich im Sinne von ,sei gegrüßt‘!
Das Wort hat Entsprechungen in allen germanischen Sprachen, von altsächsisch über altenglisch bis gotisch mit einem ähnlichen, aber regional und zeitlich unterschiedlich ausgeprägten Bedeutungshof – häufig im Sinne von ,gesund, ganz, unversehrt' aber erweitert auch als ,errettet, erlöst, unverletzt, rein, treu, aufrecht, heilig, sicher, echt, glücklich, ehrlich‘. Dass dabei das englische ,whole‘ und das deutsche ,heil‘ beide auf denselben urgermanischen Wortstamm zurückgehen, ist kein Zufall. Und im Altenglischen entspringt auch das Wort ,holy' (also ,heilig‘) dieser Wurzel. Sogar das englische Wort ,hail‘ – heute bekannt als altertümliche oder Heavy-Metal-Grußformel (,Hail to the king‘, ,Hail Satan‘) – stammt aus dieser Sprachfamilie. ,Hail‘ bedeutete ursprünglich: ,Ich wünsche dir Heil, Gesundheit, Wohlergehen‘ und ist verwandt mit dem englischen ,health‘.
Was diese Begriffe verbindet – ,heil, whole, holy, hail‘ – ist ein Verständnis von Ganzsein als Grundlage von Heiligkeit. Heilig war, was ganz war – unverletzt, integer. Quelle
Mit etwas Mut kann man interpretieren: verbunden mit dem größeren Ganzen. Zumindest kann man es wohl bei Hildegard von Bingen oder in gnostischen Texten noch so lesen. Dort ist das Heilige weniger ein dogmatisches Ideal als eine Form von Integrität, also eine Qualität des Verbundenseins.
Diese Sicht findet sich in vielen indigenen Kulturen – es gilt als heilig, was eingebunden ist in Beziehung. Heilig ist ein Ort, der mit Ahnen verbunden ist. Eine Pflanze, die heilt. Ein Kreis, in dem alle Platz haben. Heilung heißt hier: Rückkehr zur Beziehung, zur Harmonie mit dem Ganzen. Nicht Reparatur einer „kaputten Seele“, sondern das Wieder-Einfinden in ein Netz von Verbindungen, das nie ganz verschwunden war.
Gehen wir also von einem alten Verständnis aus, das ,heil‘ nicht als überhöhten Ausnahmezustand, sondern als natürlichen Seinszustand begreift. Als etwas, das uns zusteht – solange wir in Verbindung bleiben.
Brüche und Entfremdungen
Vom Ganzsein zur Erlösung
Mit der Ausdifferenzierung des Christentums zu einer institutionellen Kirche beginnt sich der Bededeutungshof von ‚Heil‘ zu verschieben.
Die ursprüngliche Vorstellung – heil im Sinne von unversehrt, in Beziehung, eingebunden in das größere Gewebe des Lebens – tritt zurück hinter die ebenfalls enthaltene Bedeutung von ,errettet, erlöst‘ und betont hiermit ein Ziel, das man durch bestimmte Bedingungen (Glauben, Sakramente, Gehorsam oder zumindest Gnade) erreichen kann.
Diese Verschiebung fügt sich in ein zunehmend dualistisches Weltbild ein – mit tiefgreifenden Folgen:
Exklusivität – Nur wer „richtig“ glaubt, erhält das Heil.
Trennung – Heil wird zu etwas, das vom Un-heil klar abgegrenzt wird: heilig oder verdammt, erlöst oder sündig, rein oder beschmutzt. Innere Widersprüche, Zweifel oder Schattenseiten haben darin keinen Platz.
Autoritätsbindung – Heil ist etwas, das durch Vermittlung von außen gewährt wird – durch Kirche, Dogma, Führung.
Im Zuge der Dogmatisierung kirchlicher Lehren verliert das Heilige zunehmend seine Körperlichkeit und Verwurzelung im Natürlichen – und wird abstrakt. Statt geerdeter Ganzheit steht meist moralische Reinheit im Zentrum.
Diese verschobene Auslegung ist mehr als eine Randnotiz – ihre Auswirkungen reichen bis in viele heutige spirituelle Praktiken.
Missbrauch des Begriffs im 3. Reich
Der Nationalsozialismus lässt sich als politische Ersatzreligion lesen – mit Symbolen, Ritualen und einem Führerkult, der sich religiöser Bilder und Sprachmuster bediente.
Dabei war der Satz ,Heil Hitler‘ nicht bloß ein Gruß. Er war ein tägliches Bekenntnis, bis hin zu einem sprachmagischen Akt, einer kollektiven Affirmation, mit der eine Gesellschaft auf das Heilsversprechen eingeschworen werden sollte. In der NS-Zeit wurde so der Begriff ,Heil‘ ideologisch überfrachtet mit Vorstellungen von Macht, Reinheit und Ausschluss.
Dass dieses Wort eine solche emotionale Wucht entfalten konnte, ist nicht zufällig: Die lange religiöse Tradierung des Begriffs hatte ihn tief im kulturellen Unbewussten verankert – als Ausdruck von Erlösung, Reinheit und höherer Ordnung. Der Nationalsozialismus konnte an genau diese Strukturen anschließen. Das Vokabular war schon da, es musste nur für die eigenen Zwecke instrumentalisiert werden.
Die Teilbedeutung von ‚Heil‘ im Sinne von Errettung und Erlösung wirkt als kulturelles Resonanzfeld fort – und öffnet noch immer Räume für Gruppen, die sich auch heute wieder als Heilsversprechen inszenieren. Quelle
Zwischen Tabu und Tiefe
Viele Menschen – gerade in Deutschland – vermeiden heutzutage das Wort ‚Heil‘ instinktiv. Es fühlt sich unheimlich an, beinahe verboten. Der Schatten, der diesem Wort anhaftet, ist nicht nur Teil der Historie, sondern wirkt in uns – psychologisch. ‚Heil‘ berührt unsere Wunde, die Spaltung, das Schweigen.
Dennoch ist es nicht gänzlich aus der Sprache verschwunden. Es zeigt sich noch in Begriffen wie Heilkräuter, Heilpraktik oder auch Heilfasten und Heilsteine. Hier meint es meist Gesundung, Linderung, ganzheitliche Wiederherstellung – oft in Verbindung mit Natur, Körperwissen und nicht-institutionellen Heilwegen. Und man ist auch heilfroh, wenn man etwas als heilsam erleben darf.
Und es bleibt ein unbequemes Wort: ,Wunderheilung‘ gilt schnell als Scharlatanerie, ,Heiler:in‘ ist ein schillernder, oft misstrauisch beäugter Titel und in Deutschland ist es (zurecht) gesetzlich verboten, Heilsversprechen zu geben. Kritisch wird es, wenn ,Heil‘ nicht beschreibend, sondern anrufend verwendet wird – selbst bei noch geläufigen Grüßen wie ,Waidmannsheil‘ oder ,Petri Heil‘. Zu Knirschen beginnt es spätestens als Anrufung in einem Ritual, wo klar der Übergang von Wort zur Wortmagie vollzogen wird. Hier schwingt die Geschichte mit – und der Missbrauch, der damit betrieben wurde.
Und damit zurück zum Anfang:
In einem rituellen Kontext wird Sprache verdichtet – sie verbindet Bedeutung mit Wirkkraft, wird zu Wortmagie. Ein Wort wie ,Heil‘ dort zu verwenden, bedeutet, seine Geschichte mitzusprechen. Und Teil davon sind auch die Risse in den Lebensgeschichten unserer Ahnen und Ahninnen: die Täterschaft, das Wegsehen, das Mitlaufen – die Opferschaft, die Entmenschlichung und das Ausgeliefertsein an Gewalt.
Es kann also nicht unschuldig oder frei verwendet werden – aber vielleicht bewusst? Ist ein Ritual jedoch der richtige Ort, um die Ambivalenz in diesem Wort mitzutragen, den Widerstand, die Frage, was wir da eigentlich sagen … und warum?
Eine Form des Umgangs ist, dieses Wort nicht zu verwenden, trotz aller guten Absichten und Argumente, die an einer Wiederaneignung hängen. Aber was, wenn das Meiden selbst Teil einer Sprachverletzung ist – eine Form der Verdrängung, die verhindert, dass wir etwas wirklich integrieren?
Kollektive wie individuelle Heilung geschieht nicht durch Vermeidung (zB vermeintliche Reinwaschung), sondern beginnt mit Anerkennung – und Mut, auch das zu anzuschauen, was wir lieber abspalten würden. Vielleicht braucht es also mehr als nur Vermeidung? Vielleicht ist genau das die Kraft eines Wortes wie ,Heil‘ – dass es uns zwingt, mit der ganzen Geschichte in Kontakt zu kommen?
Ausblick
Zwischen kollektiver Scheu und einer leisen Sehnsucht nach einem Wort, das Ganzheit in seiner spirituellen Tiefe meint, öffnet sich ein Spannungsfeld. Sollen wir ,Heil‘ zurückholen? Können wir das überhaupt? Oder braucht es andere Worte, andere Wege?
Teil 2 und 3 dieser Serie gehen genau dieser Frage nach: Welche sprachlichen Alternativen gibt es – und was geschieht, wenn wir Sprache nicht nur als Information, sondern als lebendigen, rituellen Prozess begreifen?