Zwischen Weltuntergang und Weltenwandel

~ Prolog ~
Ein kleines Reel von Nordic Animism brachte mich zurück zur Auseinandersetzung mit den Werken von Naomi Klein. Während meines Studiums habe ich ihr Buch „No Logo“ verschlungen – und das als angehende Komunikationsdesignerin. Nun habe ich einen Nachmittag mit ihren Interviews zur aktuellen Lage und ihrem Buch Doppelgänger verbracht, wo sie einen Full Circle von den sozialen Wunden der Covid-Zeit über den Klimawandel bis hin zum Kinship mit den anders-als-mensch-Wesenheiten schlägt. Uff. Hier also, was mich dazu bewegt hat – auch aus unseren vergangenen Entwicklungen rund um unsere Kursangebote heraus.

Wie wir in der Krise vom Morgen erzählen

Warum wir neue Geschichten brauchen

In der Flutwelle der Krisen, die die Welt zerrütten – die drohende Rückkehr des Faschismus, der Klimawandel, das Aussterben von Arten, die Kriege, die Retraumatisierungen – scheint der Untergang eine allgegenwärtige Erzählung. Sie schleicht sich in unsere Gedanken, mit einem Flüstern von „Mit uns die Sintflut.“ Diese Erzählung – mal wissenschaftlich nüchtern, mal apokalyptisch aufgeladen – wirkt wie ein düsterer Mythos, der die Gegenwart durchdringt. Doch was, wenn nicht nur unsere Systeme im Umbruch sind, sondern auch unsere Geschichten? Was, wenn wir neue Mythen brauchen, um in dieser Zeit zu leben – aufrecht, verbunden, schöpferisch?

Vom Zerfall zum Verwildern – ein Entwurf eines lebensbejahenden Narrativs

Was, wenn es gerade kein Zerfall ist, sondern ein neues Wachsen? Was, wenn uns das in einen Ur-Raum führt, in dem Neues, Ungeahntes wächst? Anstatt einen dystopischen Weg zu sehen, könnte der Blick in die „Verwilderung“ eine andere Art des Wandels zeigen: nicht als wirbelndes Ende, sondern als langsames, lebendiges Hineintauchen in das Unvorhersehbare, das wir noch nicht benennen können. 

Verwilderung ist ein Begriff, der diesen Schwellenraum beschreibt. Hier dürfen wir wieder lobpreisen, was lebendig ist, nicht gezähmt, nicht kontrolliert, nicht vollständig kartografiert. In einer verwildernden Welt kehren Dinge zurück, die an Bedeutung verloren schienen: Geschichten, Beziehungen, Sprachen, Gesten und anders-als-mensch-Wesenheiten. Der Boden wird wieder durchlässig, ein Nährboden für neue Beziehungsweisen, mitten in der Unübersichtlichkeit, die vielen Angst macht (evolutionsbedingt ganz logisch und biologisch, also seid sanft mit euch!).

Dieses Gegen-Narrativ stellt nicht die Katastrophe ins Zentrum, sondern das Durchfließen eines Nadelöhrs, hinter dem sich etwas jenseits der alten Ordnung zeigt. Es setzt nicht auf Sicherheit, sondern auf Tiefe. Auf Lauschen, statt posten. Es lädt ein zur Entzauberung des Fortschritts und zur Wiederverzauberung des Lebendigen. Und es kehrt damit zu einem mythologischen Blick zurück, der Wandel nicht als Ausnahme, sondern als Rhythmus versteht.

Vielleicht ist genau darin eine Chance: den Glauben an den linearen Fortschritts nicht einfach umzukehren – sondern zu verlassen. Nicht ins Nichts, sondern in etwas Älteres, Offeneres, Spiralisierendes.
Es ist ein tief animistischer Blick: Anstatt den Kollaps zu bejammern, laden wir uns ein, mutig die Zwischenzeit zu träumen.

Als animagisch Wirkende mit Bezug zur norse Mythology drängt sich die Frage auf:

Taugt Ragnarök als Schwellenmythos?

Ragnarök – dieser Name hallt nach, als ob er die Luft verdunkelt. Es ist die Erzählung vom großen, zerstörerischen Ende, in der die Götter sterben und die Sterne vom Himmel fallen. 

Im Nationalsozialismus diente die Erzählung als Projektionsfläche für einen „reinigenden Untergang“, aufgeladen mit rassistischen und nationalistischen Idealen, die die „Auserwähltheit“ eines bestimmten Volkes betonten – ein Paradebeispiel für white supremacy. Bis heute findet diese Lesart in völkischen Kreisen Resonanz. 
Halten wir uns also im Bewusstsein, dass der Mythos leicht vereinnahmt werden kann, um eine heroische Opferung im Endzeitszenario zu propagieren.

Trotz der problematischen Vereinnahmungen lohnt es sich, hinzusehen. Denn inmitten des dystopischen Chaos finden sich auch zarte Fäden: Nach dem Untergang erscheint in der Edda eine neue Welt – friedlicher, fruchtbarer, nicht mehr von Macht und Krieg bestimmt. Die Felder tragen Frucht ohne Säen. Überlebende begegnen einander neu.
Wenn wir Ragnarök nicht als Anleitung, sondern als Spiegel begreifen – als kollektiven Traum vom Zusammenbruch und einem Danach – dann kann darin etwas anklingen, das auch heute noch berührt: der Mut, sich dem Ende zu stellen, ohne dabei die Hoffnung zu verlieren. Kein Aufruf zum Kampf, sondern ein Fragen, ob in der selbst-zerstörerischen Art der Menschen ein wertvoller Same liegen kann. Ich glaube: Ja – wenn wir es wagen, diesen nicht zu beanspruchen, sondern in einer neuen Form von Beziehung zu leben.

Welche Schlüsselelemente liegen darin?

Als Grundlage eines neuen, beziehungsorientierten Mythos sehen wir drei miteinander verknüpfte Fäden:

  • Erstens: Die Welt ist verwoben, nicht sortiert in Hierarchien – Dieses Weltbild knüpft an indigene, animistische und auch verwurzelte europäische Perspektiven an, in denen Natur und Geist, Pflanze und Person, Landschaft und Mythos sich durchdringen.

  • Zweitens: Wandel ist eine Initiation, keine Katastrophe – Es ist die Erkenntnis, dass Veränderung immer schon da war. Die Frage ist nicht, was stirbt, sondern wie das, was stirbt, zu einem neuen Wachstum führen kann.

  • Drittens: Gute Geschichten stiften Beziehung, nicht Kontrolle – Sie sind die mündlich gesponnenen Fäden, die uns mit allem verbinden, was wir nicht wissen und was wir doch erahnen dürfen. Ein gutes Gegen-Narrativ ermöglicht sinnverwebende Beziehung statt trennende Analyse.

Der Weg zur Erweckung neuer Mythen

Erzählen beginnt im Zuhören – Mythologien haben keine Autor’innen – sie tauchen auf, werden empfangen. Was braucht es, um sie zu hören? Wir müssen uns Räume schaffen, die nicht von uns kontrolliert werden: Der Wald wird uns die Geschichten zuflüstern, die Poesie der Dunkelheit, die Lieder der Raben – all das sind Tore zu anderen Welten. Wir gehen auf mythologische Spaziergänge, lassen uns von den Steinen und den Wurzeln führen. Lasst uns in Nächten wachen, in denen wir lauschen.

Verkörperung folgt dem Erzählen – Verwilderung ist keine Metapher, sondern eine Praxis: sich hinauswagen, dem eigenen Mythos begegnen, sich berühren lassen. Dabei folgt der Körper der Geschichte. Er wird nicht von ihr unterrichtet, sondern staunend durch sie hindurchgeführt. Wir lassen uns von Ritualen formen, im Rhythmus, im Tanz, mit dem Atem, der uns in die Erde hineinzieht.

Netz statt Zentrum – Dieses Netz ist lebendig, es pulsiert. Wir müssen keine große Geschichte erzählen, sondern kleine, die uns miteinander verbinden. Es braucht Austausch und wechselseitige Befruchtung. Ein Netzwerk von Ritualen, von Erzählungen, von Orten, an denen Geschichten sich selbst weitertragen können. Geschichten davon, wie wir uns verlieren und wiederfinden, wie Stimmen miteinander fließen und welche Bilder uns erinnern.

Shout out an alle, die Poesie weben, Rituale kreieren oder mit den Pflanzen flüstern

In einer Welt, die sich zu fragmentieren scheint, kann der Wunsch, etwas zu bewirken, schnell in Resignation umschlagen. Doch gerade jetzt, in diesem Moment, beginnt der Wandel. Falls du zweifelst: Bleib! Im Wirken und Fühlen.

Mit Rhythmen durch Feste und Rituale, die uns erden. 
Durch Räume, die offen sind für das Ungeplante.
Formate, die mehrstimmig sind. 
Medien, die Tiefe nicht scheuen – und doch zugänglich bleiben. 
Kooperation statt Konkurrenz. 
Und vor allem: indem wir einander zuhören. 
Und weiterspinnen. 

Wir halten den Raum offen für das Unerwartete. Wir bezeugen die Risse und weben wieder Verbindung. Wir laden die wilden Geister ein, uns zu begleiten. Vielleicht ist es nicht die große, laute Revolution, die wir brauchen. Vielleicht ist es die stille, immer wiederkehrende Geschichte, die wir miteinander weben.


Quellen & Inspirationen:
  • Snorri Sturluson: Edda
  • Neil Price: Children of Ash and Elm: A History of the Vikings
  • Martin Shaw: Courting the Wild Twin
  • Tyson Yunkaporta: Sand Talk
  • Bayo Akomolafe: These Wilds Beyond our Fences
  • Heckenwerk-eigene Praxis & Walderfahrung wie Utiseta, Jahreskreisfeste, Fliegenpilz-Zeremonien und mehr
  • mit Hilfe von ChatGPT erstellt
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